räubertochter. immer noch
steh auf, mädchen, öffne dich.
da ist der druck an deiner brust
und das atmen fällt schwer.
da ist die enge um deinen hals
und das atmen fällt schwer.
da sind die schultern, die drücken,
die halswirbel, die ziehen,
die luft, die sticht
und das atmen fällt schwer.
steh auf, mädchen, öffne dich.
vor dir liegt eine ganze welt, immer noch.
wer weiß denn schon, was morgen wird,
wer weiß denn schon, wer morgen wird,
du weißt schon, wer du morgen bist.
und selbst wenn dir heute noch das
fallenlassen deiner schultern schwer fällt,
morgen schon, morgen da weckst du die toten auf,
weil nichts mehr deine brust fest hält.
steh auf, mädchen, öffne dich.
ganz genau so, wie du es willst.
ganz genau so, wie sie es nicht will.
ganz genau so, wie er es nicht will.
steh auf, mädchen und jage den metaphern nach.
also: breite deine flügel aus, saug das leben ein,
sprich frei von der leber weg,
aber kreuze dabei hinterm rücken deine finger
und mach aus deiner angst poesie.
steh auf, mädchen, öffne dich
für die hand, die dir deinen rücken stärkt.
öffne dich für die, die neben dir steht,
für den, der neben dir steht,
öffne dich für deine sommersprossen.
steh auf, mädchen, denn
du hast viel zu lange das parkett begrüßt
und das laken, den holzstuhl, die zimmertür.
doch tief drin, da ist deine ambition der plafond
und das aus dir herausgehen,
das brauchst du nicht zu finden
das ist schon längst in dir.
denn du bist räubertochter, immer noch.
steh auf, mädchen, öffne dich
und schau in dich hinein, was du da findest,
die gefühlspalette, all die farben, die erinnerungen,
halte deine augenblicke fest
und dann lass sie nicht mehr los.
so nah am leben dran warst du doch schon einmal,
so nah am leben bist du, immer noch,
denk nicht, dass das vorbei ist,
du siehst es nur gerade nicht.
aber, mädchen, wenn du aufstehst,
dann schau aus dir heraus,
denn dein weg, der geht nach vorne.
auch wenn du dafür vielleicht auch mal zurückgehen musst,
auch wenn du dafür vielleicht auch mal um dich blicken musst.
das tief drin verborgene in die hand legen
und das tief drin versteckte in die augen legen.
oder in millimeterschritten zunächst
den kopf heben und den rücken aufrichten,
weil da jetzt jemand ist, der ihn dir stärkt
und noch jemand und noch jemand und noch jemand.
und du.
du, indiskret,
du, lautstark,
du, aufstampfend,
du, auch mal ganz zärtlich,
du, auch mal ziemlich erdig,
du, stehend, nach oben gerichtet,
offen und die farben in den augen.
du, eine räubertochter, immer noch.
steh auf, mädchen, öffne dich
und druck und enge
und angst und parkett
und farben und sommersprossen
und erde und öffnung verwandel
in tiefen atem.
steh auf, mädchen, öffne dich.
denn du bist räubertochter,
immer noch.
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(c) rebecca heinrich, feber 2019, all rights reserved.
gewidmet dem mädchenheim scheuchenstuel,
in dem ich einen workshop abhalten durfte.
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